"Basisdemokratie ist schön, aber sehr anstrengend"
Karl Valentin hatte seinerzeit über die Kunst gesagt, dass sie schön sei, aber viel Arbeit mache. Für die innerparteiliche Demokratie gilt das offenbar auch. Auf jeden Fall ist sie anstrengend und kostet jede Menge Zeit, Kraft und Nerven. Für den Abend des 20. Juni hatte der Vorstand des Landesverbandes Bremen der LINKEN zu einem außerordentlichen Parteitag eingeladen, der nur einen einzigen Tagesordnung hatte, nämlich die "Arbeitsverhältnisse bei Fraktionen und Abgeordneten der LINKEN". Vorausgegangen waren heftige Diskussionen im gesamten Landesverband über die Nicht-Verlängerung der Arbeitsverträge von vier wissenschaftlichen MitarbeitInnen bei der Bürgerschaftsfraktion sowie die plötzliche Kündigung ihres Bremer Büroleiters, der mehrere Jahre vorher diese Arbeit für Axel Troost erledigt hatte, durch die Bundestagsabgeordnete Agnes Alpers. Die Kündigung erfolgte fristgerecht, wurde aber verbunden mit einer sofortigen Freistellung und der Anordnung zur unverzüglichen Räumung des Arbeitsplatzes. Gründe für dieses ungewöhnliche Vorgehen wurden dabei von Agnes Alpers nicht genannt. Mehr in der Mitgliederinformation. Über die Vorgänge und ihre möglichen Folgen wurde im Landesrat, der Mitgliederversammlung des Kreisverbandes Mitte-Ost und den Vorständen der Kreisverbände Nord-West und Links-der-Weser diskutiert. Für den a.o. Landesparteitag wurden schließlich zum Thema insgesamt 18 Anträge gestellt.
Warum "außerordentlich"?
Außerordentlich musste der Landesparteitag am 20. Juni deshalb sein, weil er nur so ohne die sonst notwendige sechswöchige Einladungsfrist einberufen werden konnte. Und möglichst schnell sollte es gehen. Denn nur so hätte eine Klärung der strittigen Fragen noch vor der Sommerpause herbeigeführt werden können. Und nur dann, so die Hoffnung, hätte die Partei über Regeln entscheiden und ihre gesamte Energie für den spätestens im Herbst richtig beginnenden Wahlkampf für die Bürgerschaftswahl im Mai 2011 mobilisieren können.
Es kam alles ganz anders. Inzwischen war nämlich "Berlin", also der Bundesvorstand und die Bundestagsfraktion der LINKEN darauf aufmerksam geworden (bzw. aufmerksam gemacht worden), dass sich im Landesverband Bremen ein erhebliches Konfliktpotenzial mit einer erheblichen Gefahr für die kommende Landtagswahl in Bremen angesammelt hatte. Die Chancen, dass die LINKE in Bremen im Mai 2011 als erster westdeutscher Landesverband ein zweistelliges Ergebnis erreicht, sind groß. Niemand kann wollen, dass in Bremen diese Chance "versiebt" wird! Gregor Gysi und Werner Dreibus aus der Partei- und Bundestagsfraktionsführung luden also quasi am Vorabend des Landesparteitages zu einem klärenden Gespräch nach Berlin ein; und Agnes Alpers, Cornelia Barth, Peter Erlanson, Andreas Hein, Jörn Hermenig, Birgit Menz, Inga Nitz, Klaus-Rainer Rupp, Leo Schmitt, Christoph Spehr und Monique Troedel erklärten sich für ein solches Gespräch bereit.
Nach 10-stündigen Verhandlungen wurde noch in der Nacht zum 19. Juni, also unmittelbar vor Beginn des a.o. Landesparteitages, in Berlin ein Kompromisspapier unterzeichnet. Vorgeschlagen wird darin ein Procedere, wie der Landesverband zu einer Kandidatenvorschlagsliste für die Bürgeschaftswahl kommen könne. Diese Liste wiederum könne nur ein Vorschlag sein, der der "Aufstellungsversammlung" aller Parteimitglieder im Januar 2011 vorgelegt wird. Nur diese wird dann letztlich darüber entscheiden, wer als Kandidat bzw. Kandidatin in Rennen geht. Das Kompromisspapier sollte nicht mehr und nicht weniger darstellen als einen "Waffenstillstand" zwischen den verfeindeten Gruppen, der dem Landesverband insgesamt die weitere interne Zusammenarbeit ermöglicht.
Die "Berliner Erklärung"
Das Kompromisspapier, schnell als "Berliner Erklärung" etikettiert, wurde unvermeidlich zum beherrschenden Thema des am folgenden Tag beginnenden Landesparteitag, obwohl sie natürlich gar nicht auf der Tagesordnung stand. Christoph Spehr als dem Landessprecher, war bewusst, dass er eine nicht ganz leichte Aufgabe hatte, das Kompromisspapier dem Landesparteitag vorzustellen. "Ich weiß" führte er aus, "dass das, was sich inzwischen bei vielen bereits herumgesprochen hat und was wir jetzt als Ergebnis unserer Berliner Gespräche hier vorstellen werden, für viele extrem unbefriedigend ist. Viele haben sich auf diesen Parteitag vorbereitet. Sie haben sich das Antragsheft durchgelesen, sie haben sich über die Konflikte informiert, sie haben sich eine Meinung gebildet, sie haben versucht das einigermaßen nachzuvollziehen, was da alles passiert ist. Und wir kommen jetzt und sagen, das läuft heute aber anders. Das fühlt sich nicht demokratisch an. Das fühlt sich nach Hinterzimmer an. Das fühlt sich falsch an. Ich möchte trotzdem für diesen Vorschlag werben und ich glaube, wenn wir ehrlich sind, geht es nicht anders."
Wie es sich zeigte, ging es doch anders. Die Diskussion war heftig. An deutlichen Worten wurde nicht gespart. Spannend war es auch, weil hier häufig zum ersten Mal und unverblümt ausgesprochen wurde, mit welcher Heftigkeit der Streit um die Abgeordnetenplätze in der Bürgerschaft und die damit zusammenhängenden Stellen ausgetragen wird. Es ginge "den Beutegruppen" ausschließlich um die "Fleischtöpfe". Vieles wäre normal und üblich in politischen Parteien; aber vieles an Heuchelei und Intrigen und Misstrauen der letzten Zeit wäre auch längst über jedes Normalmaß hinausgegangen. Immer wieder und von vielen Rednerinnen und Rednern kam der Appell, dass endlich Schluss sein müsse mit dem "zügellosen Gieren nach Parlamentsmandaten". Und immer wieder auch die Befürchtung, dass die Medien dieses verbale Gemetzel zum Schaden der LINKEN nur zu gern aufgreifen würden.
Ein erheblicher basisdemokratischer Schwachpunkt in der "Berliner Erklärung" war schnell gefunden: die 11-er-Gruppe der Unterzeichnenden stammte zwar überwiegend aus den geschäftsführenden Vorständen von Landesverband und Bürgerschaftsfraktion bzw. sind selber Geschäftsführer dieser Gremien, aber im Grunde war es eine Gruppe, die durch keinerlei Beschluss eines Parteigremiums legitimiert nach Berlin gefahren war und dort mit Hilfe der Bundesspitze einen Kompromiss ausgehandelt hatte. Dazu kam, dass die meisten Personen in dieser Gruppe mit einem hohen Eigeninteresse dabei sind, wenn KandidatInnen und Kandidaten für die Bürgerschaftswahl gefunden werden sollen. Von Dieter Nickel, unterstützt von Heinz-Gerd Hofschen u.a., kam deshalb schnell ein alternativer Vorschlag. Die Entscheidung über den Listenvorschlag für die ersten zwei quotierten Plätze ("SpitzenkandidatInnen") solle - wie im "Berliner Papier" vorgesehen - über einen Mitgliederentscheid vorab entschieden werden. Für die folgenden Plätze 3 - 14 solle der Landesvorstand dem Landesparteitag Ende Oktober eine Findungskommission vorschlagen, in der keine Personen vertreten seien, die selber kandidieren wollten. Die Kommission solle mit einer Dreiviertel-Mehrheit ihre Entscheidung treffen.
Empfehlungen oder Beschlüsse?
Über die "Berliner Erklärung" bzw. über den Alternativvorschlag konnten die Delegierten nicht entscheiden, eben weil die Frage der Listenaufstellung überhaupt nicht auf der Tagesordnung stand. Der Parteitag behalf sich bei dieser satzungsrechtlichen Schwierigkeit damit, dass kein Beschluss sondern eine Empfehlung angenommen wurde. Dies aber mit einer deutlichen Mehrheit.
Der eigentliche Tagesordnungspunkt dieses a.o. Landesparteitages, nämlich die "Arbeitsverhältnissen bei Abgeordneten und Fraktionen" kam zum Schluss aber doch noch zu seinem Recht. Es wurde ein Antrag von Helmut Kersting und Christoph Heigl mit großer Mehrheit angenommen, in dem es u.a. heißt: "Der Landesparteitag begrüßt, dass die Fraktion DIE LINKE in der Bürgerschaft zwischenzeitlich nach der Einberufung des heutigen Sonderparteitages beschlossen hat, die vier in näherer Zukunft auslaufenden, ursprünglich auf zwei jahre sachgrundlos befristeten Arbeitsverhältnisse ihrer wissenschaftlichen Mitarbeiter bis zum Auflauf der derzeitigen Amtsperiode zu verlängern. Damit wurde dem vom Landesvorstand bei der Einberufung erklärten Hauptanliegen des heutigen Sonderparteitags objektiv Rechnung getragen. Damit ist auch der ursprünglich erklärte Anlass zur Einberufung des heutigen Sonderparteitags sachlich und objektiv erledigt. Die dem Sonderparteitag vorausgehenden Auseinandersetzungen zwischen Fraktion und Partei Die LINKE in Bremen über die praktische Umsetzung politischer Forderungen bezüglich des Erhalts und der Ausweitung von Arbeitnehmerschutzrechten und dem Ziel 'guter Arbeit' bei den 'eigenen' Mitarbeitern der Fraktion und der Partei scheint aber inhaltlich noch nicht wirklich abschließend geklärt. Der Landesparteitag fordert daher den Landesvorstand auf, eine Arbeitsgruppe zu gründen. Aufgabe der Arbeitsgruppe: Entwicklung eines Arbeitnehmer / Arbeitgeber Kodexes, der das aktuelle Arbeitsrecht und die politischen Ansprüchen der LINKEN berücksichtigt. Zur personellen Zusammensetzung dieser Arbeitsgruppe empfiehlt der Landesparteitag, dass sie zu gleichen Teilen aus Vertreterinnen/Vertretern der Fraktion bzw. deren Geschäftsführung, des Landesvorstands bzw. der Geschäftsführung der Landespartei und weiteren Mitgliedern der bremischen Partei Die Linke zusammensetzen, die weder dem Landesvorstand noch der Fraktion (als Mitglied oder Beschäftigte)angehören und die je zur Hälfte von der Fraktion und dem Landesvorstand benannt werden. Der Landesparteitag überweist alle inhaltlichen Anträge an die Arbeitsgruppe als Grundlage."
Sönke Hundt
in gekürzter Form abgedruckt in der Jungen Welt v. 22.06.10